Roger Prott über Aufsicht versus Sicherheitsverwahrung ohne Anklage und Urteil

Aufsicht – einfach, aber simpeI! Albert Einstein wird zitiert mit dem Satz: »Mach es einfach, aber nicht simpel.« Dieser Satz ist bereits einer von der geforderten Sorte. Er beweist die Klugheit des Ratschlags und das Können des Genies, etwas so Komplexes in nur sechs Worten auszudrücken!

Im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht sind mir gleich zwei Sätze dieser Güte bekannt. Allerdings sind sie länger. Der erste lautet: »Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspflichtige nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um eine Schädigung der Aufsichtsbedürftigen oder eine Schädigung Dritter durch die Aufsichtsbedürftigen zu verhindern.«

Der Satz stammt vom Bundesgerichtshof, dem obersten deutschen Zivilgericht. In allen Urteilen zur Aufsichtspflicht wird darauf zurückgegriffen und so gibt es ihn in verschiedenen Varianten, doch stets mit gleichem Tenor. Diese Version von 1984 ist mir die liebste, weil darin deutlich wird, dass alle Aufsichtspflichtigen den gleichen Anforderungen genügen müssen. Eltern und Erzieherinnen zum Beispiel müssen keine Genies sein, sondern einfach nur verständig. Sie müssen vernünftigen Anforderungen entsprechen, aber keine überzogenen Ansprüche erfüllen oder Spezialwissen anwenden.

Aufsichtsbedürftige (hier: Kinder) dürfen weder selbst zu Schaden kommen oder noch andere Personen schädigen. Vernünftiges Handeln schränkt nur im Notfall und vorübergehend ein. Es ist daran zu erkennen, dass es übergeordnete Erziehungsziele nie dauerhaft begrenzt. Solche Ziele sind vor allem freie Entfaltung, Selbstständigkeit und verantwortungsbewusstes Handeln. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Aufsichtspflichtige Risiken eingehen, so dass es mitunter zu Schädigungen kommt. Wollte man Schäden vollständig vermeiden, müsste man Kinder so stark einschränken, dass ihre Entwicklung gefährdet wäre. Dies ist nicht statthaft und nicht Sinn der Aufsichtspflicht. Im Gegenteil, dann müsste das Jugendamt eingreifen.

Obwohl meine Erklärung fast siebenmal so viele Worte benötigt wie der Satz des BGH, sind damit längst nicht alle Folgerungen angedeutet, sondern nur die, die in diesem Artikel weiter ausgeführt werden.

Der zweite einschlägige Satz stammt von Simon Hundmeyer. Er war Professor für Jugendrecht an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München und hat u.a. ein Lehrbuch für die Erzieherausbildung geschrieben. In seinem aber wohl bekanntesten Werk: »Aufsichtspflicht in Kindertageseinrichtungen«, erschienen bei Link, heißt es: »Was pädagogisch nachvollziehbar begründet ist, kann keine Aufsichtspflichtverletzung sein.«

In Verbindung mit dem BGH folgt daraus, dass pädagogische Unternehmungen, die den Zielen der freien Entfaltung, der Selbstständigkeit und des verantwortungsbewussten Handelns dienen, kaum als unangemessene Aufsichtsführung eingestuft werden können. Voraussetzung dafür sind allerdings nicht die bloßen Ziele, sondern ihre Umsetzung nach vernünftigen Anforderungen. Dies muss von den Aufsichtspflichtigen dargelegt und – für andere nachvollziehbar – begründet werden.

Es ist verlockend, an dieser Stelle auch auf den Grundsatz der Fachlichkeit hinzuweisen, der Erzieherinnen grundsätzlich nur solche Aufsichtsmaßnahmen gestattet, die neben Sicherheitsüberlegungen zugleich einen positiven pädagogischen Nutzen haben. Das Nebeneinander der Anforderungen wiederum ist wegen der Zielorientierung durch eine leichte Dominanz der Pädagogik gegenüber der Sicherheit geprägt, sonst ergäben die Sätze des BGH und von Simon Hundmeyer keinen Sinn. Erziehung ist Risiko. Zwei Beispiele aus dem Alltag der aktuellen Kleinkindbetreuung werden nun an den Maßstäben vernünftigen Handelns und pädagogischer Ziele überprüft.


Kontakt
Dr. Roger Prott arbeitete erst als Erzieher in Krippen, dann als Träger von 67 Kindertageseinrichtungen und nun u.a. als Bildungsreferent, Organisationsberater und Autor. Sein Buch zu diesem Thema: »Aufsichtspflicht – Rechtshandbuch für Erzieherinnen und Eltern« erscheint in neuer Auflage.
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www.rogerprott.de



Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/14 lesen.



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