Kinder in den ersten drei Lebensjahren

Gerlinde Lill regt an, sich mit Bildungsprozessen junger Kinder auseinanderzusetzen und greift Schlüsselsituationen aus dem Alltag in Krippe und Tagespflege auf.


Essen und Trinken


»Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.« Ein Sprichwort aus Zeiten, in denen es nicht selbstverständlich war, sich satt zu essen. Leider gewinnt es wieder an Aktualität, denn die Armut in Familien wächst.

Essen und Trinken nährt den Menschen nicht nur, sondern trägt zu Wohlbefinden und Lebensfreude bei; es ist ein sinnliches Erlebnis und ein kommunikativer Akt. Beide Aspekte können in der Kita zusammenwirken. Kinder aus Familien in Notsituationen werden satt und sind gut versorgt. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Recht jedes Kindes auf einen Kitaplatz unabdingbar – von Anfang an.

Was die vergnügliche, kommunikative und selbstbestimmte Seite der Mahlzeiten angeht, so ist die Kita ein idealer Ort. Denn die Erfahrungen, die Kinder in ihrer frühen Lebenszeit machen, prägen auch in diesem Zusammenhang ihre Weltsicht und ihr Selbstbild, prägen innere Muster und wirken lange, wenn nicht lebenslang, nach.

Oft genug leiden die Essenssituationen in Familien unter Zeitnot oder gestalten sich aus anderen Gründen wenig entspannt. Sonderwünsche von Kindern führen zu familiären Konflikten, oder es werden über das Essen Probleme und Unsicherheiten ausgetragen: Was ist gut für unser Kind? Wofür müssen wir sorgen, wenn wir fürsorgliche Eltern sein wollen?

Ein Kind isst alles und viel, ein anderes mäkelt und muss gelockt, überredet, genötigt werden. Rituale wie »Ein Löffelchen für…« oder Belohnungsstrategien wie »Wenn du aufisst, bekommst du auch den Nachtisch« sind noch immer lebendig – leider auch in Kitas. Eltern, Großeltern und Erzieherinnen ergänzen einander trefflich, wenn sie fragen oder gar Buch führen, wie »gut« ein Kind gegessen hat. Unausrottbar scheint auch der berühmt-berüchtigte »Kostehappen« zu sein.

»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!« Fast immer zeigt sich in der Essensfrage ein (un-)heimlicher Machtkampf: Wer ist hier der Bestimmer?

Magersucht bei Teenagern ist vermutlich eine Form, endlich Selbstbestimmung durchzusetzen und die Macht der Erwachsenen zu brechen – koste es, was es wolle. Und sei es das Leben.
In der gemeinschaftlich organisierten Welt der Kita kann und muss ein Erfahrungsrahmen geschaffen werden, in dem Kinder Selbstbestimmung und Beteiligung erleben, auch und gerade in den Versorgungssituationen des täglichen Lebens.

Respekt vor ihren Wünschen ist der Dreh- und Angelpunkt von Organisation und Gestaltung.

Merkmale der Qualität rund um Essen und Trinken sind Muße und Gelassenheit, eine appetitanregende, entspannte Atmosphäre und die freie Entscheidung der Kinder. Die häufig postulierte gesunde Ernährung nützt wenig, wenn Stress, Druck und Zwang im Spiel sind. Dann wird es ungesund.

Wie überall zeigen sich auch beim Essen und Trinken schon früh individuelle Bedürfnisse. Die Kinder haben zu unterschiedlichen Zeiten Hunger und Durst, mehr oder weniger ausgeprägten Appetit und bereits von Anfang an verschiedene Vorlieben. Die Geschmäcker sind nicht nur bei Erwachsenen verschieden.

Zudem bringen Kinder besondere Gewohnheiten von zu Hause mit. Und manche essen mit Leidenschaft und alles, was sie zu fassen bekommen. Für andere scheint es eine eher lästige Pflicht zu sein, die sie von wichtigeren Dingen abhält.

In großen Häusern mit zentralen Küchen – oder neuerdings häufiger mit »Fremdverköstigung« – bestehen gewisse organisatorische Notwendigkeiten. Doch dies muss nicht automatisch dazu führen, dass alle Schlag 12.00 Uhr am Tisch sitzen. Gute Technik und kluge Zeiteinteilung, vor allem aber guter Willen sorgen unter allen Bedingungen für Flexibilität. Wieder gilt, was immer gilt: Die Organisation muss an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet werden. Nicht umgekehrt.
 
Können organisatorische Probleme gelöst werden, argumentieren Erzieherinnen gern aus anderen Gründen gegen die Flexibilisierung von Essenszeiten und die Entscheidungsfreiheit der Kinder: Es geht um das Gemeinschaftsgefühl, um das gewohnte Ritual, um Gemütlichkeit. Doch Gemeinschaftsgefühl entsteht nicht auf Kommando, und Rituale können auch Fesseln sein. Gemütlichkeit wird nur schwer aufkommen, wenn die innere Uhr anders schlägt und die Interessen keine Rolle spielen.

Es stimmt: Mahlzeiten sind zentrale Punkte im Tagesablauf und geben damit Orientierung.
Hoffentlich sind sie auch etwas, worauf man sich freuen kann, weil das Essen schmeckt, weil man essen kann, wenn man Hunger hat und was einem schmeckt, weil Freunde da sind, weil es eine Zeit der Gemeinsamkeit ist: Man kann einander begegnen, zusammensitzen und sich unterhalten.

»Essen gehen« sollte auch für Kinder – und zwar für alle – stets eine Quelle der Freude und Lebenslust sein. Wer nicht essen mag, mag eben nicht. Vielleicht will ein Kind nur dabei sitzen, etwas trinken und sich mit den anderen Kindern unterhalten? Und vielleicht steckt der Appetit der anderen irgendwann an. Wenn nicht, dann nicht. Vielleicht will das Kind lieber ungestört weiter spielen und irgendwann eine Banane verdrücken.
 
In der Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse respektiert werden, steckt mehr positives Bildungspotenzial als in der Erfahrung, sitzen (bleiben) zu müssen, bis man aufstehen darf. Im ersten Fall kann sich neben Selbstbewusstsein,     Eigenverantwortung und Körperbewusstsein auch die Lust am Essen und am Gemeinschaftserlebnis entfalten. Im zweiten Fall sind Unruhe der Kinder und Unmut der genervten Erwachsenen vorprogrammiert. Besonders angenehm oder gar gemütlich wirken solche Szenarien selten.

Häufig wird gerade im Zusammenhang mit so alltäglichen Verrichtungen wie Essen und Trinken das Ziel »Selbstständigkeit« beschworen. Doch was ist in der einzelnen Situation damit gemeint? Und von welcher Warte aus? Selbstständig sein wollen oder selbstständig sein müssen?

Kinder wollen selbstständig agieren: die Flasche selbst holen und halten, den Löffel selbst zum Mund führen oder ein anderes Kind füttern. Erwachsene haben ein anderes Motiv: Arbeitserleichterung. Obwohl ich mich frage, ob selbstständiges Essen von Kleinstkindern tatsächlich immer zu Arbeitserleichterung führt? Im besten Fall passt beides zusammen. Aber wenn sich acht Kleinkinder mit den Löffeln abquälen und einander den Brei um die Ohren hauen, schreien und unzufrieden sind, weil kaum was von der Leckerei dort landet, wohin es soll, ist das für niemanden besonders erquicklich.
Vielleicht versuchen wir manchmal zu früh, die Kinder in eine »erwachsene« Haltung zu bringen. Warum gönnen wir ihnen und uns das Verwöhnprogramm nicht ein wenig länger? Emmi Pikler empfiehlt das Füttern als Zeit der Zuwendung und alleinigen Verfügbarkeit – so lange es vom Kind gewünscht wird. Die Angst, dass die Selbstständigkeit dadurch zu kurz kommt, entbehrt jeder realistischen Grundlage. Entscheidend ist, dass eine Wohlfühlsituation für alle entstehen kann.

Egal, wie und wo gefüttert, gegessen und getrunken wird – das Kind entscheidet, wie viel und was es zu essen wünscht! Wird das nicht respektiert, erfährt das Kind nichts anderes als die Gewalt und Macht der Erwachsenen. Es registriert: Ich bin nicht wichtig, meine Wünsche werden nicht ernst genommen, ich bin den Erwachsenen gleichgültig.

Außerdem: Ein Kind verhungert nicht, solange Nahrung vorhanden und verfügbar ist. »Vorhin wolltest du ja nicht, nun ist es zu spät…« – dieses Relikt der Schwarzen Pädagogik wird ja wohl niemand mehr ernsthaft praktizieren.

Ein handfest praktisches Problem sind die unterschiedlichen Körper- und Sitzgrößen von Kindern und Erwachsenen. In den meisten Kitas gibt es Tische und Stühle in drei verschiedenen Größen, für die Kleinkinder, die Elementarkinder und die Hortkinder. Erwachsene – weil sie sich auf die Höhe der Kinder begeben wollen – winden sich auf winzigen Stühlen herum und klemmen ihre langen Beine unter winzige Tische. Das ist weder gesund noch gemütlich.

In manchen Häusern wurden Tripp-Trapp-Stühle angeschafft, die mitwachsen, und alle sitzen auf Erwachsenenhöhe. Das Problem: Die kleineren Kinder kommen nicht allein wieder runter oder rutschen sogar durch.

In einigen Hamburger Kitas sah ich kleine Abteile, bestehend aus Tisch und zwei Bänken, in denen die Kinder gut und sicher sitzen.
Schlau ist die folgende Variante: Tische und Stühle werden auf ein Podest gestellt, die Erzieherinnen sitzen auf normaler Bodenhöhe und mit ihren großen Stühlen an der Vorderfront. So können alle auf gleicher Tischhöhe kommunizieren.

Einen ähnlichen Gedanken hatte ein Team in Berlin: Im gemeinsamen Restaurant des Hauses wurde eine Podest-ecke mit Geländer gebaut. Die Jüngsten sitzen also etwas erhöht und können alles überblicken.

In einer anderen Berliner Kita sah ich einen Extratisch für Gäste, jederzeit einladend gedeckt, und eine Schale am Eingang des Restaurants, in der alle Ingredienzien der Mahlzeit liegen – ungekocht, zum Anschauen und Be-Greifen.




Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/14 lesen.



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