oder Wer erfindet eine neue Lernkultur?

Wer heute ein pädagogisches Studium absolviert, kam in seiner Schulzeit kaum in den Genuss einer Lernkultur, die das Lernen begünstigt. Wer an einer pädagogischen Bildungseinrichtung mit Studierenden arbeitet, kann das erst recht nicht von sich sagen. Dennoch sollen die Studierenden eines Tages in der Praxis dazu beitragen, dass sich eine neue Lernkultur etabliert. In einem BK-Gespräch thematisiert Prof. Dr. Frauke Hildebrandt dieses Dilemma und sieht einen Silberstreif am Horizont.


Alle Leute, die im Bereich der frühen Bildung lehren, Fortbildung oder Beratung anbieten, reden über eine neue Idee davon, wie Lernen funktioniert und wie ein Setting aussehen müsste, das Lernen unterstützt. Alle wissen, dass die Beteiligten aktiv sein, also ihr Lernen idealerweise selbst steuern sollten, dass der Prozess sozial organisiert sein muss und dass der Lehrende nicht permanent erklären soll. Menschen lernen individuell, verfügen über Vorwissen, haben Themen, Fragen und Interessen, die ihnen wichtig sind. Daran sollte der Lehrende anknüpfen. Alle wissen also ziemlich genau, wie es gehen sollte…


… und dann sitzen sie da.

Ja. Das wäre nicht so schlimm, wenn wir Physik lehren würden. Aber wir sollen genau das lehren, was ich eben aufgezählt habe. Praktizieren wir es nicht selbst, fallen Form und Inhalt dermaßen auseinander, dass es lachhaft wird: In alten Lehrformaten soll Neues gelehrt werden! Logisch, dass es die Lernenden dann nicht erreicht.

Ich bin neu an der Hochschule und habe es nun mit Gruppen von 25 bis 30 jungen Leuten zu tun, die direkt nach dem Abitur zu uns kommen. Meine Aufgabe ist es, ihnen nicht nur etwas von der neuen Lernkultur vorzuschwärmen, sondern diese Kultur mit ihnen sichtbar, erlebbar zu machen. Das wirklich hinzukriegen ist schwer, denn an der Hochschule läuft es auch nicht anders als in der Kita oder Grundschule. Ein Dilemma.



Die Erwartungen der jungen Leute, die vor Ihnen sitzen, passen nicht zu dem Auftrag, den Sie haben. Oder?

Das ist schon das zweite Dilemma. Das erste Dilemma ist: Ich habe diese neue Lernkultur selbst nicht kennen gelernt, nie erfahren. Und jetzt soll ich sie für andere Menschen herstellen…


… die sie auch nicht erlebt haben.

Richtig. Es gibt Professoren, die sich an diesen Widerspruch gewöhnt haben oder jedenfalls damit leben.
Ich habe mich wie andere Professoren auch dafür entschieden, alles daranzusetzen, es nicht so zu machen, und mir überlegt, wie die Studierenden selbst tätig sein könnten, damit ich nicht als diejenige über allem schwebe, die Bescheid weiß, sondern neue Themen gemeinsam mit ihnen erarbeiten kann.



Aber Bescheid wissen Sie schon, oder?
 
Manchmal ja, manchmal nicht. Sicher, es gibt einen Grundbestand an Wissen über die Welt, und in dieser Hinsicht habe ich den Studierenden etwas voraus. Aber bei den Themen, die mit Bildung und der neuen Lernkultur zusammenhängen, habe ich die gleichen Texte oder Aussagen wie sie, in die wir uns einarbeiten müssen. Das habe ich ausprobiert, und anfangs bin ich damit kläglich gescheitert.



Warum?

Die Erwartungshaltungen der Studierenden sind durch ihre Schulerfahrungen geprägt. Sie haben noch nicht darüber nachgedacht, wie es anders sein könnte. Also erwarten sie, dass jemand wie ich ihnen die Dinge erklärt, ihnen sagt, was sie machen und wie sie es tun sollen, hinterher kontrolliert und dabei gerecht vorgeht. Das ist ihre Idee von einem Lehrer. Von einer Professorin erst recht. Es war belastend für mich, auszuhalten, dass sie mich angesichts meines Vorgehens sonderbar, wenn nicht sogar blöd fanden. Manchmal dachte ich: Vielleicht mache ich es doch lieber anders.

Ich habe verschiedene Gruppen von Studierenden und konnte deshalb variieren. In der einen Gruppe hielt ich mein Konzept durch, und die Studierenden waren bis zum Schluss der Meinung, sie hätten mehr gelernt, wenn ich ihnen Dinge erklärt und ihnen mehr Input gegeben hätte. Ich hingegen fand, dass sie in unseren Workshops zu den Entwicklungsstadien der Kinder sehr aussagefähig waren, und staunte nicht schlecht, als die reinste Palastrevolution losbrach: »Wir lernen bei Ihnen nichts! Warum sind Sie überhaupt Professorin? Sie sind doch dafür da, uns die Sachen zu erklären!«

Einer anderen Gruppe gab ich Input, und zwar reichlich. Das fanden die Studierenden auch nicht gut. Es war ihnen zu langweilig. Ich konnte zusehen, wie sie abschalteten. Da dachte ich natürlich – und denke das immer wieder: Na, das liegt an dir. Du müsstest es eben können und mehr wissen, andere machen es bestimmt viel besser…

Wenn ich ein Fazit aus diesem Dilemma ziehen müsste, würde ich sagen: Man muss extrem selbstsicher und in der Materie – nicht im Thema – absolut fit sein, um mit solchen Situationen locker umgehen und mit den Studierenden neue Lernsettings aufbauen zu können. Und man muss immer erst mal deutlich zeigen, dass man etwas kann, bevor man ernst genommen wird. An diesem Punkt bin ich gerade angekommen.


Donnerwetter! Das ist wirklich schwierig. Obwohl alle Beteiligten, junge und ältere, in der alten Lernkultur aufgewachsen sind, müssen die Studierenden eine neue Kultur schaffen – für sich und mit den Lehrenden –, wenn sie später imstande sein wollen, vernünftig mit den Kindern zu arbeiten. Sie müssen das machen, in diesem kleinen Rahmen der Studiengruppe. Nicht die Lehrenden für sie. Konfrontieren Sie sie mit einer Lernkultur, die sie selbst nicht entwickelt haben, ist es kein Wunder, dass sie verzweifelt aufseufzen oder rebellieren.

Wie könnte man das Dilemma auflösen? Man könnte sagen: Liebe Studierende, ihr wollt mit Kindern arbeiten und habt gehört oder in der Zeitung gelesen, dass Lernen anders geht als in eurer oder meiner Schule. Diese neue Lernkultur müssen wir jetzt in unserem Seminar gemeinsam kreieren, weil es sie hier noch nicht gibt. Das heißt: In diesem Seminar passiert nur, was euch interessiert. Ihr gebt die Themen vor, stellt eure Fragen, und die Antworten erarbeiten wir gemeinsam.


Das habe ich in der einen Gruppe ja gemacht! Aber die meisten Studierenden konnten damit nicht umgehen. Also musste ich mir überlegen, welche Brücken ich bauen kann.

Im Seminar »Entwicklungspsychologie II«, in dem es darum geht, was sich Kinder in welchem Alter aneignen können, seien es Zahlen oder intuitive Physik, hatten sich die Studierenden ein Thema ausgesucht und sich für eine Art und Weise des Herangehens entschieden. Jeweils fünf Studierende arbeiteten sich in ein Teilthema ein und konnten sich die entsprechende aktuelle Literatur auswählen. Das fanden sie ganz unmöglich. Also sagte ich: Nehmen Sie bitte den und jenen Text aus dem und jenem Buch zur Kenntnis, denn diese Texte sind aus meiner Sicht wichtig. Danach hatten sie die Aufgabe, eine gemeinschaftliche Lernsituation herzustellen. Meiner Meinung nach gelang ihnen das gut. Aber sie waren nicht zufrieden, weil ich ihrem Dafürhalten nach nicht genug erklärt hatte.






www.blossin.de
Das »Jugendbildungszentrum Blossin e.V.« ist noch heute Bildungsstätte der Brandenburgischen Sportjugend mit erlebnispädagogischer Schwerpunktsetzung. Die »Lernwelt Blossin« verfolgt das Ziel der ganzheitlichen, non-formalen Bildung mit verschiedenen Begegnungs- und Lernangebote außerhalb gewohnter Umgebungen zur Entwicklung persönlicher und beruflicher Fähigkeiten und zur Stärkung von Partizipation.

www.kobbeloer.de
Eine neue Lernkultur bietet auch der ehemalige Leiter einer Fachschule für Sozialpädagogik – Michael Kobbeloer – er nennt sie »emotionale Didaktik«. Denn erfolgreiches Lernen ist möglich, wenn Lernprozesse »emotionsgünstig« gestaltet und inszeniert werden. Nur wer das selbst erlebt, kann es auch »leben«. Deshalb bietet Michael Kobbeloer auch Seminare für (angehende) Erzieherinnen an.


Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/14 lesen.



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